Vom Talmud zum Programmieren – ähnelt die alte jüdische Wissenschaft der modernen Cyberwelt?

Wäre es nicht eine schöne Geschichte, wenn wir sagen könnten, dass sich Juden durch ihr Studium des Talmuds seit Jahrtausenden auf die heutige, von Computern beherrschte Zeit, vorbereitet haben?

Ich bin bei weitem kein Experte im Programmieren und genauso wenig bin ich ein großer Talmudist. Vor etwa einem Jahr habe ich einen Coding-Crashkurs im Tel Aviver Developers Institute absolviert und darf mich deswegen Full Stack Developer nennen.

Mit dem Talmud beschäftige ich mich mehrmals pro Woche in einer Lerngruppe, aber Rabbiner werde ich mich wahrscheinlich nie nennen dürfen.

Die Faust aufs Auge

Hier in Israel, dem Silicon Wadi, dem technologischen Weltmarkführer in vielen verschiedenen Branchen, herrscht eine große Nachfrage nach Programmierern. Nicht nur die einheimischen Firmen suchen dringend Programmierer, auch die meisten internationalen Technologiefirmen wollen das jüdische Köpfchen anzapfen und haben aus diesem Grund Forschungs- und Entwicklungszentren in Israel eröffnet.

Auf der anderen Seite der Technologieoase liegt die Gruppe der Haredim, oder Ultra-Orthodoxe, wie sie nicht sehr liebevoll in deutschen Medien genannt werden. Diese Bevölkerungsgruppe macht etwa 12 % der israelischen Bürger aus und die haredischen Männer beschäftigen sich seit ihrer Kindheit den ganzen Tag mit dem Talmud.

Hinzu kommt, dass die Haredim neben den Arabern die ärmste Schicht in Israel bilden, während Programmierer, nach Daten von Glassdoor, im High-Tech Sektor über 38.000 Schekel pro Monat (fast 10.000 Euro) verdienen können.

Es wäre für Israel ein riesiger wirtschaftlicher Boost, wenn die über eine Million Haredim des Landes Programmierer werden würden. Oder zumindest ein Teil von ihnen.

Natürlich ist sich Israel dieser Situation bewusst und der Staat bietet Haredim verschiedene Fortbildungsmöglichkeiten an, die bereits einige Erfolgsgeschichten hervorgebracht haben.

Vielleicht wird die nächste technologische Revolution von den israelischen Haredim angeführt und wäre es nicht wunderbar, wenn man sagen könnte, dass diese Revolution durch das Studium des Talmuds möglich gemacht wurde?

Hirnakrobatik

Beim Programmieren, wie auch beim Lernen des Talmuds, setzt man seine Denkfähigkeit ein. Es sind geistige Aktivitäten und genauso wie ein Gewichtheber von Stärke profitiert, profitieren Programmierer und Talmudisten von Intelligenz.

Die Intelligenz wird jedoch in verschiedene Richtungen eingesetzt. Während der Talmudist etwas lernt, also in sich aufnimmt und zu verstehen versucht, baut der Programmierer etwas auf, wenn er einen Code schreibt und es sollte optimalerweise sogar funktionieren.

Will der Programmierer zum Beispiel eine Shop-Website erstellen, auf der man bezahlen, Kommentare hinterlassen und sich für einen Newsletter einschreiben kann, macht er einen Plan und beginnt den Code zu schreiben.

Im Talmud hingegen steht ein Gesetzestext, Mischna, den man zu verstehen versucht. Der Mischna folgt die Gemara, die den Text der Mischna analysiert. Der Gemara folgen die unzähligen Kommentatoren, die im Laufe der Jahrhunderte konkrete Gesetze aus den Texten abgeleitet haben. Aber auch immer wieder neue Schichten des Verständnisses der Texte aufdeckten.

Zum Beispiel steht in der Mischna, die ich gerade lerne (frei übersetzt):

Wenn man am Schabbat weniger als die kleinste Einheit eines Nahrungsmittels aus dem privaten Bereich in den öffentlichen Bereich trägt, ist man nicht verpflichtet. Auch das Gerät, mit dem man das Nahrungsmittel trägt, verpflichtet nicht.

Hier kommen unzählige Fragen auf, von denen manche in der folgenden Gemara diskutiert werden, während bei anderen vorausgesetzt wird, dass man ein Vorwissen hat. So bedeutet „verpflichtet“ in diesem Zusammenhang, dass man verpflichtet ist für die Übertretung des Schabbat ein Opfer im Tempel zu bringen.

Die Gemara analysiert die Mischna auf den folgenden Seiten, schweift manchmal ab, kehrt zum Thema zurück, schweift wieder ab, macht einen großen Bogen, einen logischen Dreisatz, verweist auf andere Abschnitte des Talmuds (die auch analysiert werden) und wenn man schon nicht mehr weiß, worum es eigentlich geht, geht die Hirnakrobatik auch schon mit der nächsten Mischna wieder von vorne los.

In diesem Prozess wird die Aussage der Mischna aus jedem möglichen Blickwinkel analysiert, jedes noch so unwahrscheinliche Szenario wird durchgespielt und hier finden wir eine interessante und wichtige Gemeinsamkeit mit dem Programmieren. Denn auch der Programmierer muss bei seiner Arbeit alle möglichen Szenarien berücksichtigen. Was passiert, wenn jemand seine E-Mail mit Großbuchstaben eintippt? Wie geht der Shop mit verschiedenen Währungen um? Kann man die Website auch gut auf seinem Telefon, dem Tablet und der Smart Watch sehen?

Ein guter Programmierer sieht alle Möglichkeiten voraus und reduziert dadurch Fehler (Bugs) auf seiner Website. Diese Tätigkeit ähnelt der Tätigkeit des Talmudisten, einen Sachverhalt geistig zu isolieren und ihn von allen Seiten zu betrachten.

Problemlösung

Im Talmud werden oft Mischnajot gegenübergestellt, die gegenteilige Aussagen machen. Die Gemara versucht dann beide miteinander in Einklang zu bringen, indem sie zum Beispiel beweist, dass die Mischnajot von verschiedenen Situationen ausgehen und die Rabbis in der gleichen Situation einer Meinung gewesen wären, es also keinen Widerspruch gab. Manchmal sind die Lösungen der Rabbis der Gemara jedoch so weit „out of the box“, dass man nur den Kopf schütteln kann. Aber sie funktionieren.

Auch der Programmierer stößt beim Coding auf logische Probleme, die er lösen muss. Eine „out of the box“-Denkweise ist dabei sehr hilfreich und israelische Firmen, vor allem aber die Armee ist berühmt für ihre kreative und unkonventionelle Denkweise. Ausländische Firmen, die in Israel Forschungs- und Entwicklungszentren eröffnen, loben ihre Mitarbeiter genau für diese Fähigkeiten, die haredischen Jungs in der Grundschule beigebracht werden.

Sitzfleisch

Ich könnte mir vorstellen, dass Brillenträger unter Programmierern und Talmudisten weiter verbreitet sind als in anderen Teilen der Bevölkerung. Der eine ist über seine Tastatur gebeugt, der andere über einem dicken Buch und in beiden Fällen ist die Schrift ziemlich klein.

Links ein Blatt Gemara, rechts ein Ausschnitt eines Codes.
Links ein Blatt Gemara, rechts ein Ausschnitt eines Programmiercodes.

Auch das lange Sitzen ist eine Sache, die durch hartes Training gelernt werden muss und haredische Jungs, deren Schultag bis zum Abend geht, haben wahrscheinlich einen besser durchtrainierten „Tuches“ als andere Schüler in Israel und weltweit.

Fremdsprachen

Für das Programmieren muss man eine Programmiersprache lernen, wie Python, oder JavaScript. Diese Sprache wird nicht gesprochen, wenn sich zwei Programmierer über einen Code unterhalten, nutzen sie ihre Landessprache mit den Fachwörtern der Programmiersprache.

Genauso ist es beim Lernen des Talmuds, der größtenteils auf Aramäisch geschrieben ist. Die kurzen Mischnajot sind auf hebräisch, während die langen Diskussionen in der Gemorra auf aramäisch geführt werden. Auch diese Sprache wird nicht gesprochen.

So könnte ein Programmierer einem anderen sagen, „Du hast die If-Else Funktion falsch eingeklammert“, während ein Talmudist einem anderen zurufen (bei den hitzigen Diskussionen der Talmudschüler wird mehr geschrien als gesprochen) könnte, „Du bist nicht chujew für weniger als eine Grogeres!“

Fazit

Ich denke nicht, dass man nahtlos vom Talmud zum Programmieren springen kann, aber es gibt einige Gemeinsamkeiten, die Talmudisten einen Vorteil beim Programmieren geben. Die wichtigste ist dabei wahrscheinlich das Gehirntraining eines Talmudschülers, der sein Gehirn wie ein Hochleistungssportler viele Stunden pro Tag aufs Äußerste anstrengt.

Ein Köpfchen, das gewohnt ist, auf Höchstleistung zu funktionieren, ist jedoch nicht nur für das Programmieren ein großer Vorteil. Viele Berufe würden davon profitieren.

Es gibt wohl keine magisch-kabbalistische Beziehung zwischen dem Talmud und dem Programmieren, auch wenn es eine großartige Geschichte wäre, die man sich am Schabbatmahl oder bei einem Treffen von Verschwörungstheoretikern erzählen könnte.

Für Israel wäre es jedoch ein riesiger wirtschaftlicher Boost, wenn die Haredim als Programmierer in den Arbeitsmarkt integriert werden. Wenn Programmierer und Talmudisten zusammenkommen und zu Programmisten werden, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die nächste technologische Revolution von Israel angestoßen wird.

Dann könnte man sagen, dass der Talmud auch seinen Anteil daran hatte.

4 Kommentare zu „Vom Talmud zum Programmieren – ähnelt die alte jüdische Wissenschaft der modernen Cyberwelt?“

  1. Jaeger, Edgar

    Ich bin wie Sie in beiden Proffesiones ein interressierter Laie. Dass, das Talmudstudium und Programieren eng zusammenhängt hat schon Gershom Sholem in seinem Essay „Der Golem von Prag und Der Golem von Rehovot“ beschrieben. Es mag sein, dass die Geschichte vom Golem nur eine Legende aus dem Mittelalter ist, dennoch glaube ich es sei nicht weit hergeholt zu sagen, dass die Israelis den Golem 600 Jahre nach Rabbi Löw diesen im Irone Dome nachgebaut haben. Es gab auch mal ein Literaturresearch Program mit dem Nanem Großspeicher Orientierte Listenorganisierte Ermittlungs Methode, dessen Anagram GOLEM ist un dessen einer der Programierer ein gewisser Herr Loew war. Man mag zu dem Haredim stehen wie man will, aber ihre Denkunkungsweise ist eine Inspiration für die Moderne und nicht nur, dass sie diese Technologien schon lange vorher gedacht haben, so wiesen sie wie am Bespiel des Golem auch auf die Gefahren hin.

    1. Shalom Herr Jaeger,
      vielen Dank für Ihren Kommentar. Sie sind der erste Kommentator auf meinem Blog!

      Danke auch für den Hinweis auf Gershom Sholem und den Golem. Diesen Aspekt hatte ich gar nicht bedacht, aber er ist sicherlich auch sehr relevant.

      Beste Grüße aus Bet Shemesh!

      1. Joerg Machan

        Ich habe etwas wie eine Art Seelenfrieden gefunden, als ich bei Raschi, dem größten Kommentator des Mittelalters, den Hinweis fand, dass Elohim nicht mit G“tt übersetzt werden sollte, sondern mit Richter. Vom Richter kam ich zum Gericht, und nach Rücksprache mit Dr. Henry Brandt, zum Gesetz. Jetzt übersetze ich Elohim mit Natur-Gesetz(e) und der erste Satz der Thora gefällt mir richtig gut.

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