Und täglich grüßt die Synagoge

„Ich will einen Hamster,“ erklärte Racheli während sie ihre Arme verschränkte und ihre Unterlippe vorschob.

Der Oktober begann mit einem dreitägigen Feiertag, als Rosch haSchanah direkt in den Schabbat überging. Wir mussten also für diese drei Tage jeweils zwei tägliche Festmahle vorbereiten. Während dieser Zeit verbrachte ich viel Zeit in der Synagoge, denn die Gebete für Rosch haSchanah und den Schabbat sind sehr lang. Nach dem Gottesdienst am Morgen wurde ein Festmahl verzehrt, danach durfte ich mich ausruhen, um nach einem Kaffee wieder in die Synagoge zu gehen, um zu lernen und zu beten.

Das klingt vielleicht nicht sehr anstrengend, aber lange Gebete zehren schon an der geistigen Kraft. Die Mahlzeiten sind ebenfalls nicht so entspannend, wie man sich denken könnte, denn es sind ja Kinder involviert. Die beste Hausfrau von allen und ich geben uns große Mühe, etwas Leckeres für unsere kleinen Feinschmecker vorzubereiten, aber wie das bei Prinzessinnen so ist, ist nichts gut genug.

Damit sie überhaupt etwas essen, haben wir eingeführt, dass sie meine Gerichte bewerten.

„Für das Fleisch gebe ich dir 7 von 10, für den Reis 9 von 10, aber für das Gemüse nur 4 von 10“ sagt Sarah zum Beispiel. Ich muss zugeben, dass die Mädchen versuchen, nett zu mir zu sein. Sie geben mir oft bessere Noten als ich mir selbst gebe. Besonders Naomi, die das Bewertungssystem nicht ganz versteht, gibt mir gerne „eine Million von einer Million“.

David, unser Teenager, hält sich mit seiner Kritik jedoch nicht zurück und da ich ihm keine Hamburger mit Pommes vorsetze, bekomme ich von ihm meistens eher schwache Bewertungen.

Illustration. Leider nicht unser Menü.

Bei diesen Festmahlen ist für den Vater es üblich, etwas über den Feiertag, oder den Tora-Abschnitt der Woche zu sagen. Wenn ich es schaffe, lauter als andere am Tisch zu schreien, versuche ich etwas Inspirierendes zu erzählen, aber ich muss mich beeilen, denn wenn ich auch nur kurz Atem hole, beginnt jemand am Tisch über etwas anderes zu sprechen.

„Was feiern wir am Rosch haSchanah?“ fragte ich in die Runde am Tisch.

„Das neue Jahr!“ rief Racheli.

„Sehr gut, und welches Jahr haben wir jetzt?“

„Tescha peyhey.“ Antwortete David, der das Jahr auf Hebräisch aussprach (5785 – תשפ”ה).

„Hä?“ Fragte Racheli.

„David, welches Jahr haben wir in Zahlen?“ sagte ich.

Während David rechnete welche Zahlen den hebräischen Buchstaben entsprechen, fragte Sarah, welche Geschenke sie fürs Neujahr bekommen.

„Ich will die Barbie, die einen Hund spazieren führt!“ rief daraufhin Naomi.

„Wir haben die Barbie letztes Mal im Spielzeugladen gesehen und jetzt spricht Naomi dauernd von ihr“, erklärte mir Sarah.

„Ich will einen echten Hamster!“ rief Racheli, „Warum können wir keine Haustiere haben!“

„5785!“ rief jetzt David, der mit dem Rechnen fertig war.

„Also ich weiß gar nicht, was ich mir wünschen soll“, erklärte Sarah nachdenklich.

Bevor ich etwas sagen konnte, gab die hilfreichste Ehefrau von allen zu bedenken, dass Hamster relativ pflegeleicht sind.

„Ja, Hamster!“ rief Racheli ganz aufgeregt.

„Ich wollte doch über Rosch haSchanah sprechen, warum sind jetzt Geschenke das Thema?“ fragte ich entrüstet.

„Ich will einen Hamster,“ erklärte Racheli während sie ihre Arme verschränkte und ihre Unterlippe vorschob.

„Bitte kauf mir die Barbie!“ flehte Naomi, „Ich warte schon so lange auf sie“.

„Was geschah denn vor 5785 Jahren?“ versuchte ich es noch einmal.

„Gott erschuf den Hamster,“ scherzte David.

„Hamster!“ rief Racheli.

Ich schob mir ein Stück Teriyaki-Hühnchen in den Mund, dem die Familie eine 7 von 10 gegeben hatte und gab auf. „Sollen sie sich doch über Hamster unterhalten, wenn sie wollen, ich gehe gleich schlafen“ dachte ich und atmete tief aus.

So sehen unsere Festmähler aus, ziemlich anstrengend, oder?

Schlafen und lernen

Nach dem Essen am Feiertag darf ich schlafen und ich nehme mir dafür zwei Stunden. Da ich nach dem Essen von Fleisch drei Stunden warten muss, bevor ich einen Kaffee mit Milch trinken kann, lese ich nach dem Mittagsschlaf eine Stunde, trinke dann einen Kaffee mit Kuchen, wenn die Kinder mir etwas übriggelassen haben und gehe dann in die Synagoge zum Mittagsgebet.

Vor dem Beten lerne ich meist, was ich sehr gerne tue. Die Synagoge ist eine Insel der Ruhe im tosenden Sturm des Familienlebens. Ich habe einen Stammplatz mit einem Shtender vor einer Reihe Bücher und gutem Blick auf unsere kleine Synagoge. Hier sitze ich und lese in aller Ruhe, so wie ich es als Kind in unserer Stadtbibliothek getan habe.

Ein Jude mit einem Shtender.

Nach dem Mittagsgebet geht’s zurück nach Hause, wo ein weiteres etwas kleineres Mahl auf mich wartet, oder eher gesagt, darauf wartet aufgetischt zu werden, wenn die aktivste Ehefrau von allen mit den Kindern im Park ist.

Nach dem Essen wird noch herumgeschrien, getobt und gestritten, denn warum nicht? Es folgt ein Abendgebet und dann ist der Feiertag oder Schabbat zu Ende. Aber noch nicht ganz, es folgt noch ein kleines Hawdallah-Gebet mit Kerze, Geruchskräutern und Traubensaft. Und dann ist es wirklich vorbei.

Solche Tage wiederholten sich seit Rosch haSchanah ziemlich oft, bis die hohen Feiertage gestern nach Ende des Schabbats vorüber waren. Am heutigen Sonntag bin ich ins Büro geflüchtet, wo mich ein Haufen Arbeit erwartete. Ich bin dem heiligen Murmeltier entkommen, nur um in der nächsten Zeitschleife zu landen. Nach solch einer langen Zeit der anstrengenden Ruhe, war ich jedoch voller Energie und schaffte es sogar, diesen Blog- Beitrag zu schreiben. Genauso werde ich im Laufe der Woche immer mehr den Schabbat erwarten, der mir wiederum Kraft für die folgende Woche gibt. Und so weiter bis zum Jahr 5786, wenn der Kreislauf wieder von vorne beginnt.

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