Meine Reise nach Jerusalem Episode I: Krieg der Erdbeeren

Vor langer Zeit, in einer Galaxie, weit, weit entfernt (2007 in Berlin), dachte ich über den Sinn des Lebens nach. Es herrschte Bürgerkrieg in mir. Sollte ich dem galaktischen Imperium beitreten und mir einen Bürojob suchen oder rebellieren und frei sein?

Die Rebellion siegte und ich bereitete mich auf meine Reise nach Jerusalem auf dem Landweg vor. Ziel war es, ein spannendes Reisebuch zu schreiben, in dem auch ein Dialog mit den Religionen in Israel vorkommen sollte.

Bewaffnet mit einem noch leeren Tagebuch, einem riesigen Rucksack und einer coolen Sonnenbrille stürzte ich mich ins Abenteuer. Per Anhalter schaffte ich es schnell bis nach Slowenien, wo ich über Couchsurfing eine kostenlose, freundliche Unterkunft fand.

Die erste Lektion

Meine Gastgeberin in Ljubljana, konnte mich jedoch nur die erste Nacht beherbergen, da sie plötzlich Familienbesuch erhielt. Ich zog in ein Hostel, wo ich plötzlich starke Kopfschmerzen bekam und in eine Art Depression verfiel. Ich fühlte mich schrecklich und legte mich in eines der sechs Betten im Zimmer. Mein Leiden wurde jedoch bald unterbrochen als vier amerikanische Teenager ins Zimmer stürmten. Sie legten ihr Gepäck aus und begannen, Pläne für ihren Aufenthalt zu machen. Dabei tranken sie Red Bull und ich hatte das Gefühl, dass sie bei jedem Schluck aus der Dose ein Stück lauter wurden. Meine Kopfschmerzen freuten sich über diesen Besuch und begannen herumzuhüpfen und gegen die Innenwand meines Kopfs zu schlagen. Bevor sie ein Loch in meinen Kopf schlagen konnten, verließ ich das Hostel.

Im Halbschlaf trottete ich durch die Stadt. Die frische Luft tat mir gut, aber jetzt hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich wurde von starken Zweifeln über meine Rebellion überkommen. Wie konnte ich mich auf solch eine Reise machen und denken, dass ich ein Buch schreiben kann? Ich bin doch gar kein Schriftsteller! Wie schaffe ich es überhaupt, bis nach Jerusalem zu kommen? Ich war sicher, dass ich einen riesigen Fehler gemacht hatte!

Mein Spaziergang brachte mich schließlich auf einen Bauernmarkt und ich bemerkte, dass ich noch nichts gegessen hatte. Ein Stand mit Erdbeeren fiel mir in die Augen, wo ich eine Schale der rotesten Erdbeeren kaufte, die ich je gesehen hatte. Mit meinem Schatz setzte ich mich in einen nahegelegenen Park und begann zu essen.

Die Erdbeeren schmeckten genauso lecker, wie sie aussahen, sie waren unglaublich süß und saftig und ich verschlang sie in nur wenigen Minuten. Nach nur einigen Bissen war meine Depression plötzlich wie weggeblasen. Weg waren die Kopfschmerzen und die schlechte Laune! Stattdessen fühlte ich mich als hätte ich einen Zaubertrank getrunken. Ich konnte es kaum glauben, meine Laune hatte sich blitzschnell total geändert. Die Zweifel waren verschwunden und durch Abenteuerlust ersetzt.

Dieses Ereignis gab mir zu denken. Vor nur einigen Minuten war ich sicher, dass meine Entscheidung auf diese Reise zu gehen ein großer Fehler war, aber jetzt war ich fast euphorisch über die Aussicht nach Jerusalem zu pilgern und einen Bestseller zu schreiben. Welches meiner Ichs hatte recht, das deprimierte oder das optimistische? Bin ich überhaupt in der Lage, wichtige Entscheidungen zu treffen, wenn ihr Ergebnis von einer Schale Erdbeeren abhängt? Und wie sieht dieses Problem im großen Rahmen aus? Kann der Mensch rationale Entscheidungen treffen oder ist sein Denken zu sehr von anderen Dingen beeinflusst?

Die Wahrheitsperspektive

Etwa ein Jahr später lernte ich bereits in einer Jeschiva (Bibelschule) in Jerusalem, wo ich auf ein faszinierendes Buch von Rabbi Eliyahu Dessler stieß. Es heißt Strife for Truth (Streben nach der Wahrheit) und man könnte es fast als ein Werk über die Psychologie der Torah bezeichnen. Hier beschreibt Rabbi Dessler ein ähnliches Phänomen der menschlichen Unzurechnungsfähigkeit.

Rabbi Eliyahu Eliezer Dessler

Allerdings ist bei ihm nicht die Stimmung der Person, die sein Denken beeinflusst, sondern ein vorheriges Interesse: Im Laufe des Tages muss ein Mensch unzählige Entscheidungen treffen, kleine über sein Mittagessen sowie große über den Weg, den er im Leben einschlägt. Dafür benutzt er seinen Verstand. Ist dieses feine, komplexe Instrument jedoch in der Lage, zu richtigen Ergebnissen zu kommen?

Rabbi Dessler beschreibt, dass ein Mensch ein bestimmtes Interesse hat, das dem Verstand bereits im Voraus vorgibt, zu welchem Ergebnis er kommen soll. Der Rabbi zitiert den Talmud, in dem der Fall eines Richters beschrieben wird, der zwar eine Bestechung annimmt, aber sich trotzdem fest vorgenommen hat, die schuldige Partei schuldig zu sprechen und die unschuldige unschuldig. Dieser Richter ist nach Meinung des Talmud nicht mehr in der Lage, ein objektives Urteil zu sprechen, weil er unbewusst eine Sympathie für eine der Parteien in sich trägt, er wollte, dass sein Bauer den Prozess gewinnt. Sein Wille sagt seinem Verstand also, dass er doch bitte Argumente für die bevorzugte Partei suchen und die der anderen Partei weniger gewichten soll.

Der Rabbi erzählt uns noch eine andere Geschichte aus dem Talmud, die Geschichte von Rabbi Ishmael ben Yose, der eine Fruchtplantage besaß. Einer der Bauern, der auf dieser Plantage arbeiteten, brachte dem Rabbi jeden Freitag eine Schale Früchte, aber in einer Woche brachte er die Früchte bereits am Donnerstag, da er einen Gerichtstermin hatte und sich das Haus des Rabbis auf dem Weg befand. Rabbi Ishmael war zufälligerweise der Richter dieses Verfahrens, aber er fürchtete beeinflusst zu sein, da er die Früchte bereits einen Tag früher erhalten hatte und er lehnte es ab, diesen Fall zu richten. Er nahm die Früchte nicht an, obwohl sie sowieso seine eigenen waren, aber der Rabbi wollte sogar den kleinsten Funken Subjektivität vermeiden.

Ein anderer Richter übernahm den Fall schließlich und Rabbi Ishmael hörte sich das Gerichtsverfahren außerhalb des Gebäudes an. Dabei fiel ihm auf, wie sein Verstand immer wieder nach Argumenten für seinen Bauern suchte. Er bemerkte, dass diese Gedanken mit der Schale Früchte in Verbindung standen und  war erschrocken über die Kraft der versteckten Vorgänge in der Psyche des Menschen. Man könnte hinzufügen, dass er den Bauern ja kannte und wahrscheinlich mochte, also auch eine emotionale Bindung ins Spiel kam.

Ich hatte wieder einmal recht, aber was nun?

Meine Befürchtung, dass der Verstand des Menschen keine sehr zuverlässige Basis von Entscheidungen ist, wurde also von Rabbi Dessler und dem Talmud bestätigt. Emotionen, Interessen und auch die Stimmung eines Menschen haben großen Einfluss auf seine angeblich rationale Entscheidungsfindung.

Was sollen wir jetzt jedoch mit dieser Information anfangen? Wie können wir die nicht-rationalen Einflüsse auf unseren Verstand ausschalten oder umgehen? Wie können wir unserem Verstand jemals wieder vertrauen ein wahres, objektives Urteil zu fällen, nachdem wir gesehen haben, wie leicht er zu beeinflussen ist?

Rabbi Dessler gibt uns einige Antworten auf diese Fragen:

Ein erster Schritt wäre es, sich Rat von weisen Menschen zu holen. Am besten von Ihrem örtlichen orthodoxen Rabbiner. Wenn das Leben ein Labyrinth ist, durch das man sich hindurchkämpfen muss, dann kann man sich einen Weisen so vorstellen, dass er auf einem Aussichtsplatz sitzt, der das gesamte Labyrinth übersieht und es ihm ermöglicht Anderen mitzuteilen, wo es lang geht.

Da Interesse und Emotionen dem Verstand die Richtung vorgeben, hilft es, an seinen Charaktereigenschaften zu arbeiten, so dass man von ihnen zumindest nicht in eine negative Richtung wie Stolz, Rache und ähnlichem gezogen wird. Man sollte eher positive Eigenschaften wie Empathie oder Großzügigkeit fördern.

Da man dem Verstand auch nicht vertrauen kann, richtige Antworten auf moralische und ethische Fragen zu finden, ist es sehr hilfreich, wenn man ein nicht-menschengemachtes Wertesystem besitzt. Man kann seine Entscheidungen in den biblischen moralischen Vorgaben verankern und ist dadurch weniger den tosenden Stürmen seiner Emotionen preisgegeben.

Der Rabbi hat einen letzten Tipp für uns: Wenn uns eine Entscheidung leicht fällt, sollten wir skeptisch sein. Wenn wir jedoch nach langem Überlegen und einem Kampf mit unseren Emotionen zu einer Entscheidung kommen, gibt es eine kleine Chance, dass sie richtig ist. Eine Schale frischer Erdbeeren hilft uns dann zusätzlich, uns in die richtige Stimmung zu versetzen.

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