Als ich noch als Atheist in Deutschland lebte, hatte ich in jährlich wiederkehrenden Zyklen das Bedürfnis, meinen Rucksack zu packen und für einige Monate zu verreisen. Als Traveller war ich ein freier Weltbürger auf Abenteuersuche. Ich glaube meine Reiselust war jedoch auch eine Flucht vor einem Leben in Routine und eine Suche nach einem „mehr im Leben“. Anders gesagt, hatte ich wohl einmal pro Jahr eine Midlife-Crisis.
Seitdem ich als orthodoxer Jude in Israel lebe, habe ich überhaupt kein Bedürfnis mehr zu verreisen. Das liegt wahrscheinlich an den zwei oben genannten Gründen, denn das Leben hier ist keine Routine mehr und meine religiöse Lebenseinstellung gibt mir das „mehr im Leben“.
Es sind vor allem die Feiertage, die uns Juden so sehr beschäftigen, dass wir keine Zeit und kein Bedürfnis haben von fremden Orten zu träumen. Das Geheimnis der Feiertage ist nämlich, dass sie einerseits materiellen Vorbereitungen und symbolischen Handlungen bedürfen, uns aber auch in bestimmte emotionale Zustände versetzen.
In diese emotionalen Zustände versetzt man sich, indem man über die jeweiligen Feiertage lernt. Sie alle haben historische Hintergründe, aber auch tiefe philosophische, psychologische und soziologische Aspekte, mit deren Erforschung man Jahre verbringen kann. Die Beschäftigung mit den jüdischen Feiertagen ist die Beschäftigung mit den Geheimnissen der Existenz.
Hier zum Beispiel ein Artikel von Rabbi Sacks über Sukkot.
Wir haben gerade Rosch Ha-Schana hinter uns, den Tag des Gerichts, an dem wir versuchen uns zu fühlen, als würden wir vor dem Obersten Richter stehen, der unsere Taten des letzten Jahres beurteilt. Zehn Tage später, am Jom Kippur, fasten wir, bitten um Vergebung für unsere Sünden und beenden den Tag mit einer weißen Weste, bereit für einen Neustart.
Vier Tage später feiern wir eine Woche lang Sukkot, das Laubhüttenfest. Dafür bauen wir eine Sukka auf unserem Balkon, kaufen die vier Pflanzen, schmücken unsere Sukka mit Bildern, die die Kinder in der Schule gemalt haben und versuchen uns auch emotional in den gewünschten Zustand zu versetzen.
All dies ist ziemlich anstrengend, aber wer die Feiertage ernst nimmt, kann auf dieser emotionalen Achterbahn seinen Spaß und seine Erfüllung finden. Ich glaube, meine frühere Reiselust hat sich durch die Feiertage in eine spirituelle Reiselust verwandelt.
Soweit die Theorie
In der Praxis sieht es jedoch nicht ganz so aus wie oben beschrieben. Während sich die Kinder in der Schule auf Sukkot vorbereiten, bin ich mit den Herausforderungen des täglichen Lebens beschäftigt. Meine Vorbereitung auf den Feiertag muss nach Feierabend stattfinden und ist deshalb etwas unzureichend.
Die Kinder hingegen kommen sehr leicht in den gewünschten emotionalen Zustand. Schon nach Rosch ha-Schana geht es los mit der Vorbereitung auf Sukkot.
„Papa, wann fangen wir an, die Sukka zu bauen?“
„Nach Jom Kippur.“
An allen zehn Tagen zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur wird diese Frage gestellt und auf gleiche Weise beantwortet. Jetzt liegt Jom Kippur hinter uns und während ich diese Zeilen in meinem Büro schreibe, hat David bereits angefangen, die Wände der Sukka aufzustellen. Wenn ich am Nachmittag nach Hause komme, werfen wir unser Bambusdach auf die dafür vorgesehenen Balken unseres Balkons und die Sukka steht.
Dann übernehmen die Mädchen und schmücken die Holzwände mit ihren gebastelten Kunstwerken. Nur noch die Lampen an den Strom im Wohnzimmer anschließen, einen Timer für den Schabbat einfügen, der das Licht automatisch um 21.30 ausschaltet und fertig.
Partytime!
Sukkot wird in der Bibel ein Feiertag der Freude genannt und wie vieles andere, nehmen orthodoxe Juden diesen Vers wörtlich. Der Rambam empfiehlt, Wein zu trinken, um seine Freude zu erhöhen und heutzutage kommt zu dieser alten Weisheit die Erfindung der Hochleistungslautsprecher hinzu. Die Balkone der Häuser in unserem religiösen Viertel verwandeln sich am Sukkot in Basen für Lautsprecher, aus denen ununterbrochen Happy-Music tönt.
Abends essen wir in unseren Laubhütten die erforderlichen festlichen Mahlzeiten, singen dabei, trinken noch etwas Wein und schlagen im Takt auf unsere Camping-Tische.
Es ist ein Gebot, während der sieben Tage Sukkot in der Sukka zu schlafen und als ich noch jünger war, hatte ich es jedes Jahr aufs Neue versucht. Glücklicherweise ist es ebenso ein Gebot, nicht in der Sukka zu schlafen, wenn dies nicht möglich ist oder es einem Leid bereitet. Es ist dieses zweite Gebot, das ich erfülle, denn für meine Nachbarn hat die Party kein Ende.
Auf den Balkonen um mich herum wird bis tief in die Nacht gesungen und ich habe einen sehr leichten Schlaf. Also gar keinen in meiner Sukka. Es ist eigentlich ganz schön, in der frischen Luft auf dem Balkon zu schlafen, umgeben von den Kunstwerken der Kinder, aber es ist einfach zu laut.
Stattdessen gehe ich wie gewohnt in meinem Schlafzimmer früh schlafen und wenn ich dann am nächsten Morgen wie gewohnt früh aufstehe, beginnt bei mir die Party! Für Frühaufsteher allerdings, und davon gibt es in meiner Straße keine.
Es ist ein großartiges Gefühl, um 7 Uhr morgens, ausgeschlafen und in völliger Stille in seiner Sukka zu sitzen und Kaffee zu trinken. Nur das Zwitschern der Vögel durchbricht die Stille – und die Happy-Music aus meinem Hochleistungslautsprecher.