Leider hat das jüdische Volk viel Erfahrung mit Entführungen seiner Mitglieder. Im Laufe des 2000-jährigen Exils kam es oft zu Entführungen von Juden, im mittelalterlichen Europa, auf hoher See von Piraten und aktuell von muslimischen Banden.
Dementsprechend gibt es eine umfangreiche halachische Gesetzgebung zu diesem Thema, die auf biblischen Prinzipien beruht. Wieder einmal gibt uns Rabbi Eliezer Melamed einen Einblick in das jüdische Recht in der aktuellen Situation:
Die Befreiung von Gefangenen
Unsere Weisen sagten, dass es eine große Mizwa ist, Gefangene freizukaufen, und diese sei wichtiger ist als alle anderen Arten von Wohltätigkeit, weil der Gefangene unter Hunger, Durst und dem Mangel an Kleidung leidet und außerdem in Lebensgefahr ist (Bava Batra 8b). Daher sollte keine Mühe gescheut werden, um Gefangene zu retten (Rambam und Shulchan Aruch Yoreh De’ah 252:1).
Unsere Weisen haben jedoch ein Gesetz erlassen, das es verbietet, einen überhöhten Preis für die Befreiung von Gefangenen zu zahlen, wie in der Mischna erklärt wird: „Wir befreien Gefangene nicht für mehr als ihren Wert, um Tikkun Olam (die Welt zu reparieren) zu erreichen“ (Gittin 45a). Damit soll vermieden werden, dass Verbrecher einen Anreiz erhalten, immer mehr unserer Leute zu entführen, da sie wissen, dass wir bereit sind, jeden Preis für sie zu zahlen. Dies wird auch im Shulchan Aruch (Yoreh De’ah 252:4) festgelegt.
Die Poskim (Entscheider des jüdischen Rechts) sind sich uneinig, wenn die Entführer damit drohen, den Gefangenen zu töten. Einige sagen, dass es zulässig und eine Mizwa ist, jeden Betrag für ihn zu zahlen, da es sich um eine unmittelbare und konkrete Lebensgefahr handelt (siehe Pitchei Teshuvah Yoreh De’ah 252:4). Auf dieser Grundlage argumentieren einige, dass die Geiseln in der Gefangenschaft der Hamas um jeden Preis freigekauft werden sollten, da sie schreckliches Leid erfahren und sich in unmittelbarer und konkreter Lebensgefahr befinden.
Ihr Argument ist jedoch falsch. In der gesamten Diskussion geht es um übermäßige Geldzahlungen an Räuber, aber wenn es um Forderungen an die gesamte jüdische Öffentlichkeit geht, die in diesem Gebiet lebt, wie die Aufgabe von Land oder die Einstellung von Handel und Landwirtschaft, dann handelt es sich nicht mehr um Forderungen von Entführern, sondern von Feinden, die der gesamten jüdischen Gemeinschaft den Krieg erklären.
Unsere Weisen haben uns angewiesen, dass wir, wenn Feinde kommen, um eine Grenzstadt zu plündern, sogar unser Leben riskieren, um gegen sie in den Krieg zu ziehen, denn wenn wir uns ihnen in einer kleinen Angelegenheit ergeben, werden sie weiterhin gegen uns kämpfen und das Leben vieler Juden gefährden (Eruvin 45a; Shulchan Aruch Orach Chaim 329:6).
Dies gilt umso mehr, wenn es sich um einen Feind handelt, dessen erklärtes Ziel die Zerstörung des Staates Israel ist. Jede überhöhte Zahlung für unsere Geiseln ist eine Kapitulation, die das Leben aller Juden in vielerlei Hinsicht gefährdet:
1) Viele der freigelassenen Terroristen werden zurückkehren, um Juden zu ermorden.
2) Ein solches Abkommen wird künftige Versuche fördern, weitere Geiseln zu einem unerträglichen Preis zu entführen.
3) Der Feind wird dies als Sieg betrachten, was zu einer Steigerung seiner Moral führen wird, wodurch der Krieg verlängert wird, und viele Opfer fordert.
4) Nach den Zugeständnissen in früheren Vereinbarungen gibt sich der Feind nicht mehr mit der Freilassung einer hohen Anzahl von Terroristen für jede Geisel zufrieden, sondern fordert politische und sicherheitspolitische Erfolge wie Waffenstillstand und Rückzug. In einer solchen Situation ist das Risiko größer, da jedes Gebiet, aus dem wir uns zurückziehen, zu einem Territorium wird, von dem aus sie Juden ermorden und dem Staat Israel schaden werden.
Der gefährliche Deal
Obwohl die Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit davon überzeugt ist, dass die Hamas besiegt werden muss, ist nicht klar, ob sie versteht, dass wir den Krieg nicht gewinnen werden, wenn ein Deal zur Freilassung von Geiseln zu einem überhöhten Preis abgeschlossen wird, und dass wir dadurch viel mehr Leben gefährden werden, als wir retten. Dies ist keine Hypothese, sondern eine Schlussfolgerung, die auf früheren Erfahrungen beruht.
In einem schrittweisen Prozess gab der Staat Israel nach und stimmte der Freilassung von Geiseln zu einem immer höheren Preis zu. Der erste war der Jibril-Deal im Jahr 1985, bei dem 1.151 Terroristen im Austausch gegen drei israelische Soldaten freigelassen wurden. Diese freigelassenen Gefangenen führten die erste Intifada an, die weniger als drei Jahre nach dem Deal ausbrach und zu mindestens zehnmal so vielen Todesopfern führte.
Im Jahr 2004 wurde ein Abkommen mit der Hisbollah unterzeichnet, in dem Elhanan Tannenbaum und drei weitere Leichen von Soldaten im Austausch für 450 Terroristen, darunter Scheich Obeid und Mustafa Dirani, freigelassen wurden. Infolgedessen versuchte die Hisbollah natürlich, weitere Soldaten zu entführen. Zwei Jahre später gelang es ihnen, und infolgedessen brach der Zweite Libanonkrieg aus, bei dem 121 Soldaten und 44 Zivilisten getötet wurden.
Der Prozess der Zuspitzung setzte sich fort und erreichte seinen Höhepunkt im Jahr 2011 mit dem Abkommen zur Freilassung von Gilad Shalit. Im Oktober 2011 wurde Gilad Shalit im Austausch gegen 1.027 Terroristen freigelassen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und 26 weitere Minister unterstützten das Abkommen, drei waren dagegen: Avigdor Liberman, Moshe Ya’alon und Uzi Landau.
Diese freigelassenen Terroristen führten mehrere Terrorkampagnen gegen Israel an und schufen dabei ein Terror-Monster ohnegleichen, das zum aktuellen Krieg führte, in dem bisher mehr als 1.500 Zivilisten und Soldaten getötet wurden.
Was tun?
Moral, nationales Schicksal und Realität verlangen also, dass wir die Hamas besiegen. Wenn wir dabei keinen Erfolg haben, was Gott verhüten möge, wird sich unsere Lage verschlechtern und die Gefahren werden zunehmen.
Glücklicherweise ist dies die Position der Mehrheit und vielleicht sogar der überwältigenden Mehrheit der jüdischen Öffentlichkeit. Die seit Monaten von den Verantwortlichen des Sicherheitssystems vertretene Meinung ist ebenfalls, dass sie die Hamas-Terroristen besiegen werden, bis diese nur noch zwei Optionen haben: zu sterben oder sich zu ergeben. Leider ist es den Soldaten trotz ihres Mutes bisher nicht gelungen, ihre Mission zu erfüllen, da es an einer geeigneten Strategie fehlt.
Unsere Situation ist tragisch; der Streit zwischen Rechten und Linken in Israel ist tiefgreifend und berührt Fragen des Lebens und der Moral (und die Frage, ob die Geiseln mit einem Deal oder militärisch befreit werden können). Dies geht einher mit einem Mangel an Vertrauen seitens der meisten linken und einiger rechter Anhänger in die gewählte Regierung. Es gibt auch einen Mangel an Vertrauen seitens vieler rechter und einiger linker Anhänger in die Sicherheitskräfte. In einer solchen Realität müssen wir uns so sehr wie möglich bemühen, die jüdische Identität und gemeinsame Werte zu stärken, einschließlich Respekt, Sensibilität und Verständnis für politische Gegner.
Rabbi Melamed lehnt also auf Basis der Halacha einen Geiseldeal ab, da die Hamas viel zu hohe Forderungen stellt. Aus Sicht der Hamas sind die Geiseln das einzige Druckmittel, das sie noch gegen Israel haben und die Terroristen versuchen, dieses zur Beendigung des Krieges zu nutzen.
Es macht für die Hamas keinen Sinn, die Gefangenen zu befreien, wenn der Krieg danach weitergeht und die Terrorgruppe schließlich zerstört wird. Andererseits macht es für Israel keinen Sinn, den Krieg zu beenden, auch wenn alle Geiseln befreit sind, denn die Hamas hat geschworen den jüdischen Staat immer wieder anzugreifen. Dieses Ziel ist auch ihr einziger Existenzzweck.
Es scheint, es kann keinen Deal geben, der beide Seiten zufriedenstellt und es bleibt nur die militärische Lösung.
Ich habe übrigens von einem Reservisten gehört, dass die israelische Armee den Aufenthaltsort von etwa der Hälfte der Geiseln kennt, aber sie nicht befreien kann, da sie sofort getötet werden würden, sobald sich Soldaten nähern. Diese Orte sind von israelischen Soldaten eingekreist und man wartet wohl auf eine gute Gelegenheit für eine Befreiungsaktion.
Bis dahin spielen beide Seiten das Spiel der Geiselverhandlungen, die zu keinem Ergebnis führen können.