Ich wollte inneren Frieden – dann kam der Schulbus

Kann man Frieden finden, wenn vier Kinder grundlos streiten? Ein Vater sucht Erleuchtung – und findet Alltag.

Seit einigen Wochen bin ich sehr inspiriert und glücklich, denn ich befinde mich auf dem Weg zur Erleuchtung. Ich lese gerade das Buch „Letting Go“ von David Hawkins, das den Weg zur Perfektion und zum ultimativen Glück beschreibt. Es wurde mir von Rabbi Gerzi empfohlen und passt perfekt zu seiner Philosophie des Judentums.

Ich weiß nicht, ob Sir David R. Hawkins, M.D., Ph.D. religiös im traditionellen Sinne ist, er nennt sich spiritueller Lehrer und scheint ein kalifornischer Hippie-Professor zu sein, aber seine Thesen könnten direkt aus einem jüdischen „Mussar“ Buch stammen (Mussar wird der Teil des Judentums genannt, der sich mit der Vervollkommnung des Menschen befasst). Ich habe das Buch noch nicht zu Ende gelesen, aber es hat schon einen positiven Effekt auf mich.

Einfach loslassen

Kurz zusammengefasst geht es im Buch von Dr. Hawkins darum negative Gefühle zu identifizieren, anzuerkennen und schließlich loszulassen. Gefühle wie Stolz, Furcht oder Zorn sind die Basis für viele unserer Gedanken und Handlungen, was nicht gut ist. Stattdessen sollte man Gefühle wie Liebe, Akzeptanz oder Vergebung kultivieren.

Die Voraussetzung dafür ist, dass man sich über diese Gefühle bewusst ist und sie zur Kenntnis nimmt, anstatt sich blind von ihnen führen zu lassen. Kommt ein negatives Gefühl auf, nimmt man es wahr, spürt die Furcht, oder Wut und lässt sie dann los. Dies gilt auch, oder besonders, für aufgestaute Gefühle, die man aus dem Unterbewusstsein hervorholen und loslassen kann. Dadurch befreit man sich von negativer Energie, die dann für positive Dinge frei wird.

Der Untertitel von „Letting Go“ ist „Pathway to surrender“, was man als „Der Weg zur Selbstaufgabe“ übersetzen könnte. Ich habe noch nicht 100 % verstanden, wie das funktioniert, aber man soll sich dabei aufgeben, indem man die Welt so akzeptiert wie sie ist. Gestern ist vorbei und morgen ist auch noch keine Realität, nur das Jetzt zählt. Im Jetzt lassen wir negative Gefühle los und versuchen positive Gefühle aufkommen zu lassen. Wir ergeben uns der aktuellen Situation und versuchen ihr mit Liebe und Frieden zu begegnen.

Interessant finde ich auch Hawkins Darstellung des kleinen und großen Ich. In jeder Situation kann man wie ein kleiner Mensch handeln, also auf Basis von Neid, Rache, oder anderen negativen Gefühlen, oder wie ein großer Mensch, der vergibt, Frieden verfolgt, oder hilfreich ist.

Im Judentum

Da wo Dr. Hawkins eine spirituelle Energie sieht, die er im Buch manchmal auch Gott nennt, sieht das Judentum den Einen Gott Israels, den Schöpfer des Universums. Wie erwähnt, ist die Perfektion des Menschen auch im Judentum unter dem Stichwort Mussar/Tikun HaMiddot ebenfalls sehr wichtig und wird in vielen Büchern von den großen jüdischen Weisen umfassend beschrieben.

Rabbi Gerzi hat immer gute Lese-Ideen.

Besonders aber der Selbstaufgabe wird im Judentum ein hoher Wert beigemessen, es wird hier Bitachon genannt, was im modernen Hebräisch Sicherheit bedeutet. Ein echter Zadik – Gerechter/Heiliger – vertraut in allem auf Gott. Er ärgert sich nicht wegen der Vergangenheit und macht sich keine Sorgen um die Zukunft. Seine Aufgabe ist es im Hier und Jetzt den Willen Gottes zu erfüllen.

Die Parallelen zwischen Hawkins Buch und dem Judentum könnten in einem eigenen Buch beschrieben werden. Er selbst schreibt, dass der Weg des Loslassens und der Selbstaufgabe der Weg aller Heiligen Menschen ist, was ich mir gut vorstellen kann.

Frieden ohne Kinder

Als ich an einem ruhigen Nachmittag das Kapitel über Frieden las, in dem Dr. Hawkins beschreibt, wie er diese höchste Stufe der menschlichen Entwicklung erreicht hat, war ich sehr inspiriert. Könnte ich auch so erleuchtet werden? Wäre es nicht wunderbar, keine Sorgen zu haben und mit einem inneren Frieden durch die Welt zu gehen?

Ich stellte mir mein Leben als Heiliger vor, wie ich die Erleuchtung erlange und mir und der Welt Frieden bringe, als plötzlich die Eingangstür auffliegt und Sarah hereinstürmt.

„Ich hasse dich!“ schreit sie ins Treppenhaus.

Racheli stürmt nun ebenfalls in die Wohnung, stürzt sich auf Sarah und hält sie am Hemd fest.

Illustration!

„Du hast angefangen!“ schreit Racheli Sarah an.

Naomi kommt jetzt auch in die Wohnung und schaut mich erschöpft an. Sie legt ihren schweren Schulranzen ab und wirft sich in meine Arme.

„Es ist soooo heiß draußen,“ beklagt sie sich.

Währenddessen stehen sich Sarah und Racheli weiterhin gegenüber und schreien sich an.

„Was ist denn passiert?“ frage ich.

„Sarah ist doof!“ erklärt mir Racheli.

„Racheli hat mir im Bus die Zunge rausgestreckt!“ ruft Sarah unter Tränen.

„Du hast mich zuerst angeguckt!“ schreit Racheli zurück.

„Na und? Ich darf gucken, wohin ich will!“

„Mich darfst du nicht angucken!“

So viel zum Frieden in meinem Leben. Wie kann ich in solch einem Umfeld nur die Erleuchtung erlangen? Zumindest gibt mir diese Situation die Gelegenheit, meinen inneren Frieden zu testen und ihn mit meiner Familie zu teilen.

„Es ist doch egal, wer wen angeguckt hat“, sage ich mit einer sanften, friedlichen Stimme. „Lasst uns alle Frieden schließen und Freunde sein, dann können wir den Nachmittag noch genießen. Was denkt ihr?“

„Aber sie hat angefangen!“ ruft Racheli.

„Und dann hast du geantwortet“, erkläre ich ihr. „Damit hast du es ausgeglichen, jetzt gibt es keinen Grund mehr, weiter zu streiten.“

„Aber ich habe nichts gemacht und Racheli hat mir die Zunge rausgestreckt! Das ist nicht fair!“ schluchzt Sarah.

Ich spüre, wie mich mein innerer Frieden langsam verlässt. Warum können sie sich nicht einfach vertragen, anstatt über diese dummen Dinge zu streiten!?

„Wollt ihr euch jetzt also den ganzen Tag streiten?“ frage ich leicht genervt.

„Racheli muss sich entschuldigen,“ sagt Sarah mit vor der Brust verschränkten Armen.

„Was! Du musst dich entschuldigen!“ schreit Racheli wütend.

„Ich habe Durst“, sagt Naomi und zieht an meinen Tzitzit.

Ein Mädchen knotet Tzitzit für Soldaten.

Froh über die Ablenkung, bringe ich Naomi ein Glas Wasser. Sarah und Racheli haben sich in entgegengesetzte Ecken des Wohnzimmers gesetzt und blicken sich feindselig an.

Es wäre gut, wenn ich jetzt einfach weggehen könnte, aber die Kinder müssen sich die Hände waschen, etwas essen, Hausaufgaben machen und dann idealerweise ruhig miteinander spielen, oder Freunde besuchen.

Obwohl ich nicht mehr viel Frieden in mir spüre, nehme ich Racheli in die Arme und ziehe sie sanft zum Badezimmer. „Hast du Hunger? Komm wasch deine Hände und ich gebe dir ein Stück Wassermelone“.

Racheli lässt sich von mir leiten und setzt sich mit sauberen Händen an den Küchentisch. Ich gebe ihr die versprochene Wassermelone und wiederhole die Übung mit Sarah, die ich jedoch an den Wohnzimmertisch setze. Beide essen jetzt ihre kalte Wassermelone, während Naomi zuerst ihre Hausaufgaben erledigen wollte.

Endlich Ruhe, die nur durch die Schmatz- und Schlürfgeräusche der Mädchen unterbrochen wird. Damit kann ich leben. Ich setze mich hin und atme tief ein. Das war anstrengend, aber hoffentlich werden die Kinder nach ihrem Snack etwas entspannter sein. Sie sind ja ganz süß, wie sie an ihrem großen Stück Wassermelone nagen.

Sarah, Racheli und Naomi essen einen Geburtstagskuchen. Ganz süß, wenn man sie durch die Augen eines KI betrachtet.

Plötzlich fliegt die Eingangstür wieder auf und David stürmt herein.

„Yo, Sisters was geht!“ ruft unser Teenager, der immer voller Energie ist, wenn er nicht gerade lernen oder zu Hause helfen soll. „Was ist los Racheli, warum hast du so rote Augen?“

Sie hatte den Streit schon vergessen, aber jetzt kommt alles wieder hoch.

„Sarah ist die dümmste Schwester auf der Welt!“ ruft sie. „Darum habe ich rote Augen!“

„Stimmt nicht! Du bist viel dümmer!“ schreit Sarah und fängt wieder an zu weinen.

Ich schaue David an und er erkennt sofort, was er getan hat.

„Upsi“ sagt er und zieht sich in sein Zimmer zurück.

Da sitze ich nun wieder mit zwei weinenden Kindern. Kann es inneren Frieden ohne äußeren Frieden geben? Hätte Dr. Hawkins die Erleuchtung erlebt, wenn er vier Kinder hätte?

Ich würde gerne an einem ruhigen Ort sein und über diese Fragen meditieren, meinen inneren Frieden finden und mit einem Lächeln im Gesicht durchs Leben gehen. Aber das ist nicht der jüdische Weg. Uns wurde geboten, Kinder zu zeugen und Familien großzuziehen, aber trotzdem einen erleuchteten Zustand zu erreichen. Wie das funktioniert, werde ich in einem zukünftigen Beitrag beschreiben – wenn ich es bis dahin herausgefunden habe.

Hat dir der Text gefallen?

Diesen Text teilen

Facebook
Twitter
Pinterest

Weitere Artikel

Spende

Auch wenn Gott irgend einem Menschen Reichtum und Schätze gibt und ihm gestattet, davon zu

Weiterlesen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Skip to content